Als die Software das Metall überholte: Verschlafen wir den Automotive-Wandel?

Automotive-Wandel: Ein Buzzword, dass dieser Tage immer häufiger fällt. Vor allem die für Deutschland so wichtige Automobil-Branche scheint Schwierigkeiten zu haben, sich über die Blechgrenze der Wertschöpfung hinaus zu orientieren - aber es kommt Bewegung in die Sache. Wichtig Personalien ändern sich, neue UNECE-Regelungen senden ein Beben in die Branche, und angesichts von Materialknappheit und Fachkräftemangel wird sichtbar nach Lösungen gesucht.

Zeit für uns, uns mit einem bekannten Gesicht der Branche zu unterhalten: Michael Römer, Founder und Business Builder und bewandert in wichtigen Themen wie digitaler Transformation, Wachstum und Businessaufbau hat sich die Zeit genommen, unsere drängenden Fragen zu beantworten. Heraus kam ein unbedingt lesenswertes Interview, mit dem wir im Folgenden viel Spaß und viele "Aha-Effekte" wünschen.

Marc Wiechmann Cognizant Mobility

Marc

Marketing Professional

9.09.22

Ca. 15 min

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Das Interview zur automobilen Zeitenwende mit Michael Römer (Kearney, Binary Core)

Mobility Rockstars: Herr Römer, danke für Ihre Zeit. Ihre Stimme ist in der Automotive Branche bereits bekannt, hat Gewicht. Was meinen Sie, wenn Sie sagen, dass die Car-Software-Industrie ein hohes Disruptionspotential hat?

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Michael Römer: Mit der steigenden Vernetzung unseres täglichen Lebens ändert sich auch die Erwartungshaltung der Kunden an das Endprodukt Automobil. Die Kunden erwarten heute ein hochinnovatives Tech Produkt mit einem durchgängigen und qualitativ sehr hochwertigen digitalen Erlebnis auf dem Niveau ihres Smartphones, basierend auf verknüpften und vollständig integrierten Services.

Die Kapitalmärkte erwarten, dass Automobilhersteller dieses Potential für sich nutzen können – das heißt, den Wandel hin zum Technologie-& Softwarekonzern zu meistern und additive Umsätze zum Fahrzeugverkauf durch digitale Services und Functions on Demand zu generieren. Tesla ist hierfür nach wie vor ein erfolgreiches Beispiel.

Dieser Wandel definiert die Wertschöpfung der Automobilkonzerne neu, Software löst Hardware als primären Output ab. Die Car-Software-Industrie steht vor einer nie dagewesenen Disruption, einer massiven Verschiebung in der Wertschöpfung.

Diese Verschiebung schafft Platz für neue Marktplayer. Von Challenger OEMs, häufig EV-Player, welche mit den traditionalen OEMs im Wettbewerb stehen, bis hin zu Tech-Playern, welche mit den traditionellen Zulieferern im Wettbewerb um die Software-Wertschöpfung stehen.

Das meine ich, wenn ich von Disruptionspotential spreche.

„Der Fortschritt in der erfolgreichen Umsetzung ist abhängig vom Innovationsgrad.“

Mobility Rockstars: Wie stehen Sie zu Neuerungen wie UNECE R155/156 bzw. ISO21434? Wie sehr wird das die Branche verändern, einen Automotive-Wandel herbeiführen – ist diese überhaupt für eine „Software-Betreuung“ inkl. Reaktionsfähigkeit über Jahrzehnte hinweg vorbereitet? Hat der Black Hat Hack (Grand Jeep Cherokee) die Branche wachgerüttelt? Beobachten Sie, dass mehr Geld in Forschung und Entwicklung gesteckt wird?

Michael Römer: Die Neuerungen stellen die richtigen Weichen für die Ausrichtung der Industrie. Dadurch folgen nun dringend erforderliche organisatorische und technische Antworten auf rechtliche Anforderungen, zur sicheren Verzahnung von Cyber-Security und der Updatefähigkeit aller E/E Komponenten.

Der Fortschritt in der erfolgreichen Umsetzung dieser Maßnahmen ist allerdings abhängig von dem Innovationsgrad der einzelnen OEMs. So haben einzelne Challenger OEMs diese Maßnahmen schon seit längerer Zeit erfolgreich umgesetzt und dienen daher als Leitbilder. Dahingegen existieren auch traditionellere OEMs, welche versuchen sich inkrementell zu diesem Leitbild hinzubewegen, um diese Neuerungen möglichst ganzheitlich zu adressieren.

So beginnt Cyber-Security mit dem Absichern von Fahrzeugen durch “Security by Design”, d.h. von der Systemarchitektur (Robustheit und Updatefähigkeit) über Risiken entlang der Wertschöpfungskette bis hin zu den wesentlichen Arbeitsabläufen, Risikoanalysen und Monitoring, inklusive der Zuliefererseite. Ergänzend dazu muss das Software-Update-Management-System, die Updatefähigkeit der gesamten Elektronik mit allen Steuergeräten sicherstellen, bedeutet, das sichere und geschützte Aktualisieren von Fahrzeugsoftware. Diese Anstrengungen werden zudem mit wachsenden F&E Aufgaben adressiert.

Die Brisanz dieser Themen ist mit Sicherheit durch die Transparenz des Black Hat Hacks (Grand Jeep Cherokee) nochmals unterstrichen worden.

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Während der Black Hat Konferenz 2015 führten die Forscher Charlie Miller und Chris Vasalek vor, wie – verhältnismäßig – einfach das Flaggschiff der Jeep Flotte, der Grand Cherokee, gehackt und beinahe nach Belieben manipuliert werden konnte: Lenkrad, Motor, Getriebe, Bremssystem, Scheibenwischer, Klimaanlage, Türschlösser und mehr konnten von Vasalek und Miller praktisch vom Notebook aus fernbedient werden.

„Die traditionellen OEMs folgen Ansätzen, setzen aber kaum innovative Akzente.“

Mobility Rockstars: Ist das Tempo des deutschen Automotive-Wandels ausreichend, oder werden wir abgehängt? Verliert das Auto das Prädikat „Made in Germany“, und überholen uns modernere Produkte aus Fernost?

Michael Römer: Gemäß unseren Benchmarks sehen wir einen steigenden Versatz zwischen Challenger und traditionellen OEMs, besonders im Bereich der Software-Wertschöpfung.

Challenger OEMs mit ihrem klaren Fokus auf softwaregetriebene Wertschöpfung schaffen ein differenzierendes Kundenerlebnis durch ein explizit darauf ausgerichtetes Geschäftsmodell, die entsprechende Fahrzeugarchitektur und Supplier-Integration. Die traditionellen OEMs hingegen folgen lediglich diesen Ansätzen, setzen aber kaum innovative Akzente.

Dies, gemeinsam mit der Geschwindigkeit, in welcher wir Themen vorantreiben, muss sich verändern. Wir müssen ein softwarebasiertes Kundenerlebnis „Made In Germany“ kreieren und uns darüber zukünftig differenzieren. Den Gestaltungsspielraum der Disruption aktiv nutzen und den Erwartungen des Kapitalmarkts gerecht werden.

Mobility Rockstars: VW hat kürzlich seinen Vorstand Diess gefeuert, Nachfolger wurde Porsche-Chef Blume. Als Grund wird eben genau die zu langsame Digitalisierung angeführt. Hat Sie das trotz all der Vorstöße überrascht, oder ist das konsequent?

Michael Römer: Zuerst einmal wünsche ich Herrn Dr. Blume alles Gute für die nächste Aufgabe und den Börsengang von Porsche.

Zweitens möchte ich mir nicht anmaßen, die Personalie Diess hinsichtlich der Rechtfertigung dieses Vorstoßes zu kommentieren. Herr Diess hat mit seiner konsequenten Ausrichtung von VW hin zu den Themen Elektrifizierung und Software Pionierarbeit für die deutschen OEMs geleistet und somit richtige strategische Weichen gestellt.

Mit dieser Weichenstellung sind aber auch definitiv Herausforderungen in der Neuausrichtung verbunden. So zum Beispiel der Aufbau der Organisation in dem Markenverbund, die Priorisierung von Themen über die einzelnen Marken hinweg und zum anderen der Grad an Softwareexperten/-entwicklern, welche wirklich zur Erhöhung des Eigenanteils in einer ausreichenden Qualität beitragen.

Diese Themen sollten Teil der kurzfristigen Agenda sein.

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Dr. Oliver Blume, CEO von Porsche und nun auch Vorstandsvorsitzender der Volkswagengruppe, hat große Aufgaben vor sich. Wir wollten wissen, wie eine valide Strategie für die wichtigen ersten 100 Tage in der Spitzenposition aussehen könnte.

Mobility Rockstars: Das finden wir interessant! Was wäre denn Ihre Empfehlung für die wichtigsten Schritte von VW für die „ersten 100 Tage“ in der Spitzenposition der Entscheidungskette?

„Der Erfolg von CARIAD ist immens wichtig für den Gesamterfolg des Konzerns.“

Michael Römer: Erst einmal geht es um Transparenz auf die kurz- und langfristigen strategischen Prioritäten. Darüber hinaus würde ich daran arbeiten, ein starkes Management Team aufzustellen, das in der Lage ist im Markenverbund gemeinsame strategische Entscheidungen zu treffen und diese konsequent umzusetzen.

Unter den Themen, gemäß der strategischen Wichtigkeit und der aktuellen Herausforderungen, würde ich vor allem diese drei priorisieren:

  • Aufbau und Ablauf der CARIAD-Organisation
  • Aufbau Softwaregetriebene Geschäftsmodelle und Umsätze
  • Absicherung der Supply Chain

Der Erfolg von CARIAD ist immens für den Gesamterfolg des Konzerns als Software & Technologieunternehmen. Doch durch die zentrale Ausrichtung ist die Kollaboration und das operative Entwickeln im Markenverbund mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Herausforderungen verknüpft. Diese müssen transparent dargestellt und angepasst werden. So bedarf es beispielsweise einer deutlich höheren Anzahl an nativen Entwicklern, um die Qualität und Eigenleistung in die richtige Richtung zu lenken.

Zudem bedarf der Wandel hin zu einem Software & Technologie-Unternehmen eines konkreten Zielbilds, wie beispielsweise „dass bis im Jahr 2030 mindestens dreißig Prozent der Umsätze über Software-getriebene Geschäftsmodelle erzielt werden sollen“. Nur so wird die Wichtigkeit dieses Themas auch nachhaltig in der Ressourcenallokation verankert.

Drittens würde ich das Thema Supply Chain Resilience adressieren, um die Lieferfähigkeit weiter zu gewährleisten – unabhängig etwaiger weiterer Krisen durch ein wirksames Risikomanagement.

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Native Entwickler, aktive Software-Ingenieure: Mangelware auf dem deutschen Fachkräfte-Markt, aber elementar für den Automotive-Wandel, den die Automobil-Branche „Made in Germany“ benötigt.

Mobility Rockstars: Sie sagen es selbst, Stichwort „native Entwickler„: Was die Branche braucht (und was unbestritten einer der größten Showstopper der Digitalisierung im Automotive-Wandel ist), sind Fachkräfte. Fast 100.000 Stellen blieben 2021 unbesetzt, von 2019 abgesehen Rekord – bis 2030 wird ein Mangel von einer Million IT-Fachkräften prognostiziert. IT-Experten, die uns also helfen sollten, so etwas wie das Betriebssystem des Fahrzeugs auf ordentliche Beine zu setzen oder an der Autonomisierung zu arbeiten. Gibt es überhaupt einen echten Fachkräftemangel, oder sind einfach andere Branchen mittlerweile attraktiver – oder mangelt es vor allem in den niedrigeren Gehaltsgruppen an Anreizen aus der Branche?

Michael Römer: Der Fachkräftemangel ist existent, aber der Hauptfaktor für fehlende und fähige Fachkräfte in der Automobilindustrie liegt primär in der Attraktivität der Tech-Branche. Das internationale Ringen um junge und sehr fähige Fachkräfte ist bereits seit Jahren im vollen Gange, wie sie bereits eingangs erwähnt haben. Diese Entwicklung verschärft sich weiter durch das überproportionale Wachstum der Tech-Branche.

Die primären Entscheidungsfaktoren für junge und internationale Talente sind dabei meist: Entlohnung, Verantwortungsfelder, Zusammenarbeitsmodelle und Umfeld. In all diesen Punkten schneiden die Tech-Player gemäß unseren Benchmarks deutlich besser ab.

Die Automobilbranche muss aufwachen, diese Punkte in Sachen Automotive-Wandel anerkennen und endlich adressieren. Dementsprechend ihr Geschäftsmodell anpassen und sich als Tech-Software Unternehmen positionieren. Wir haben in Deutschland nach wie vor sehr starke Universitäten und Forschungseinrichtungen, um diesen Wandel erfolgreich zu gestalten. Somit haben wir die besten Voraussetzungen, uns im internationalen Wettbewerb auch zukünftig weiter zu differenzieren, die Jugend für diese Themen zu begeistern und ihnen Gestaltungsmöglichkeiten zu bieten.

Dann bin ich mir sicher, dass die Automobilbranche deutlich an Attraktivität gewinnt und wir gemeinsam das nächste Kapitel von „Made in Germany“ schreiben.

„Wir hängen hinterher und müssen wieder dahin zurückfinden, neue Möglichkeiten durch Software und Elektronik zu gestalten.“

Mobility Rockstars: Bleiben wir bei „Made in Germany“: Kann die Beständigkeit der deutschen Automobilindustrie auch ein Qualitätsfaktor sein, der jetzt bremst, aber morgen Wirkung entfaltet? Oder müssen wir alle sprunghafte Elon Musks werden, um einen Automotive-Wandel zu erreichen?

Michael Römer: Es bedarf beidem: Beständigkeit in Kombination mit Innovation, aber deswegen müssen wir nicht alle zu Elon Musks werden.

Die deutsche Automobilindustrie hat über viele Jahrzehnte den Maßstab für Innovation und höchste Qualität gesetzt und darüber Beständigkeit demonstriert. Ich nenne Ihnen ein einfaches Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit, das „SAE-Level 3“ von Mercedes. Mit Beständigkeit und Bescheidenheit hat ein deutscher Automobilkonzern das erste zertifizierte System für hochautomatisiertes Fahren auf den Markt gebracht.

Aber das entspricht leider einer Ausnahme und lässt sich nicht auf anderen Softwarethemen umlegen. In den anderen Software-Domänen, den digitalen Geschäftsmodellen etc. haben wir leider weder Innovationen noch Beständigkeit oder ein Qualitätsfaktor der morgen Wirkung entfaltet.

Wir hängen deutlich hinterher und müssen wieder dahin zurückfinden, neue Möglichkeiten durch Software und Elektronik aktiv zu gestalten und uns darüber zu differenzieren.

Mobility Rockstars: Schon jetzt vielen Dank für das sehr interessante Interview, mit wichtigen Insights zum Status Quo der Branche. Zum Abschluss noch unsere berüchtigte „Science Fiction Frage“: Wenn Sie nur eine einzige Änderung morgen selbständig und ohne Rücksprache Automotive-Branchenweit einführen können, die von allen akzeptiert und umgesetzt wird: Welche wäre das?

Michael Römer: Eine gemeinsame Partnerschaft zur Entwicklung eines nicht differenzierenden Middleware- & Base-OS-Layers. Durch die Synergien hätten wir einen sehr kosteneffizienten und qualitativ sehr hochwertigen Ansatz, welcher der Industrie die notwendige Plattform liefert.

Professional Marc

Marc

Marketing Professional

Marc arbeitet als Senior Digital Marketing Manager bei Cognizant Mobility und generiert Content, fährt Kampagnen und leitet die SEO-Strategie der Internetauftritte.