Patentanmeldungen im Automotive: Alarmbereitschaft?

Patentanmeldungen im Automotive Sektor: Wenn wir so weitermachen, haben wir in wenigen Jahren unsere technologische Zukunft verspielt. Sind wir in Sachen Top-Technologie hier in Europa, hier in Deutschland eigentlich noch gesund? Oder hat längst ein Abstieg begonnen? Neben der Menge an Risikokapital, das hierzulande ja auch nur bestenfalls im Mittelfeld spielt, gibt es noch weitere Indikatoren, die uns vielleicht Sorgen machen müssten, was die Innovationskraft Deutschlands angeht. Nämlich die Patentaktivitäten.

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Und auch hier zeigt sich, dass sich die Kräfteverhältnisse längst verschieben. China erobert eine Branche nach der anderen. Auch im Automotive-Bereich. Die Patentaktivitäten chinesischer Unternehmen gehen mit dieser Entwicklung einher.

Was ist eigentlich mit uns los? Technologienation? Land der Dichter und Denker – Heimat der Tüftler? Wir haben uns mit jemandem unterhalten, der diese Frühindikatoren aus seiner beruflichen Praxis kennt.

Bernhard Thum, Diplom-Maschinenbauingenieur, selbst Erfinder und tätig als deutscher und europäischer Patentanwalt. Er unterstützt Unternehmen dabei, ihre Erfindungen in Deutschland, Europa und in der ganzen Welt durch Patente zu schützen und hilft ihnen bei der Durchsetzung ihrer Schutzrechte oder bei der Verteidigung gegen Fremdschutzrechte. Seine Erkenntnisse geben Anlass zur Sorge für den Wirtschaftsstandort Deutschland…

Meist hat man ja nur ein vages Gefühl davon, ob und wie stark wir in Deutschland bei digitalen Geschäftsmodellen oder bei Innovationen mittlerweile hinterherlaufen. Woran kann man denn ablesen, wie stark sich das Blatt bereits gewendet hat?

Technische Innovationen benötigen bekanntlich Zeit vom ersten zündenden Gedanken bis hin zur Umsetzung in der Praxis. Dies ist sicher bei Dienstleistungen anders, man denke an Airbnb oder Reservierungsplattformen, die von der ersten Idee bis zur Umsetzung als funktionsfähige und vom Endverbraucher nutzbare Plattform nur wenige Monate benötigt haben. Neue technische Erfindungen müssen aber vom ersten Konzept bis zum marktreifen Produkt fertig entwickelt, in Prototypen erprobt, in vielen Iterationsschleifen verbessert und schließlich für den Endverbraucher zugelassen werden. Man denke an den langen Weg der Elektromobilität, oder ein ganz aktuelles Thema – vernetzte Kraftfahrzeuge zur Umsetzung des autonomen Fahrens. Daran wird seit Jahren geforscht und entwickelt. Anhand der Präsentation von Prototypen auf Messen oder in der Presse lässt sich kaum feststellen, wie ein Unternehmen im Vergleich zu seinen Wettbewerbern dasteht. Die Anzahl der Patentanmeldungen und erteilten Patente in einem bestimmten Technologiebereich zeigen aber, wie aktiv ein Unternehmen an einer bestimmten Thematik forscht. Daher geben Patentstatistiken und deren Entwicklung über die Zeit Auskunft darüber, wo Unternehmen oder Regionen Forschungsschwerpunkte setzen. Man kann an diesen Statistiken sehr gut technische Trends und zukünftige Entwicklungen ablesen.

Zieht man beispielsweise eine Statistik der Weltorganisation für Geistiges Eigentum – kurz WIPO – hinsichtlich der Einreichung von sogenannten PCT- Anmeldungen heran, d. h. Patentanmeldungen mit globaler Erstreckung, so erkennt man, dass in den letzten 10 Jahren von 2009-2019 der Anteil der PCT-Anmeldungen aus Asien von 32% (2009) auf über 52 % (2019) angewachsen ist, hingegen der Anteil aus Europa und aus den USA stammender Patentanmeldungen jeweils um ca. als 10 % gesunken ist.

Im Jahr 2019 stammten knapp 61.000 solcher PCT- Anmeldungen aus China, knapp 52.000 aus Japan, ca. 56.000 aus den USA und nur ca. 52.000 aus Europa. China hat in den letzten Jahren einen zweistelligen Zuwachs an solchen internationalen Patentanmeldungen. Im Jahr 2020 betrug der Zuwachs für chinesische Anmelder sogar über 16 % auf ca. 69.000 PCT-Anmeldungen. Die größten Anmeldezahlen findet man dabei in den technischen Bereichen der Telekommunikation, des Maschinenbaus und auch im Automotivebereich.

Das Blatt ist gerade dabei, sich zu wenden oder hat sich zum Teil schon gewendet. Dies ist alarmierend. Hier muss ein Umdenken stattfinden.

Warum ist der Schutz des geistigen Eigentums zunehmend wichtiger und was bedeutet es, wenn man sich hier abhängen lässt?

Patentanmeldungen sind ein Indikator für die Innovationskraft eines Landes. Irgendwann werden zu diesen Patentanmeldungen aber Patente erteilt, d. h. Monopolrechte, die bei einem Gericht gegenüber Wettbewerbern durchgesetzt werden können. Betrachtet man hierzu beispielsweise eine Statistik des Europäischen Patentamts, so fällt auf, dass chinesische Unternehmen im gesamten Jahr 2010 nur ca. 430 neu erteilte, also durchsetzbare europäische Patente zu verbuchen hatten, im Jahr 2019 waren es aber bereits über 6.200 erteilte Patente. Dies ist zwar immer noch weniger als 1/3 der Zahl der vom Europäischen Patentamt an deutsche Unternehmen erteilten Patente im Jahr 2019. Die zu erwartenden Zuwächse, die sich bereits in der in der gezeigten Grafik der WIPO andeuten, lassen jedoch erwarten, dass sich das „Kräfteverhältnis“ – wie Sie es nennen – bereits massiv verschiebt. Wenn sich der Trend fortsetzt, werden in wenigen Jahren chinesische Unternehmen deutlich mehr Patentanmeldungen und durchsetzbare Patente in Europa zur Verfügung haben als heimische Unternehmen.

Wenn sich aufgrund hoher Lohnkosten, Verfügbarkeit von Rohstoffen und Fertigungskapazitäten aber auch im Hinblick auf neue entstehende Märkte Deutschland und Europa immer weiter weg von einem Fertigungsstandort hin zu einer Region entwickeln, in der Innovationen entstehen, entwickelt aber nicht mehr produziert werden, ist es unerlässlich, das eigene geistige Eigentum zu schützen. Sie sprachen einleitend vom Land der Dichter und Denker. Diesen Ruf hat sich Deutschland erarbeitet. Wir haben immer noch eine hervorragende Ingenieursausbildung und verfügen über Universitäten, die sich weltweit mit anderen Institutionen auf höchstem Niveau messen können. Andere Regionen, wie beispielsweise China, sind aber deutlich dynamischer und bieten den Vorteil großer Märkte.

Wenn wir mit unseren Produkten in Zukunft mitmischen und auch neue Akzente setzen möchten, beispielsweise im Bereich alternativer umweltfreundlicher Antriebskonzepte, dann müssen die guten Ideen, die hier entstehen, gegenüber Wettbewerbern geschützt werden. Gerät man damit ins Hintertreffen, dann passiert genau das, was wir in der Telekommunikationsindustrie beobachten konnten: Die ehemals führenden europäischen Unternehmen wie Nokia, Philips, Alcatel oder Siemens sind in diesem Technologiebereich entweder ganz vom Markt verschwunden oder spielen nur noch eine Nebenrolle. Auch die Solarindustrie hatte ein ähnliches Schicksal. Vergleichbares droht im Automotivebereich. Hier gibt es große Chancen durch Umsetzung neuer Konzepte, wobei wir im globalen Wettbewerb bereits hinterherhinken, und dies völlig unnötig. Man denke, dass deutsche Automobilhersteller vor über 10 Jahren bereits fertige Konzepte für wasserstoffgetriebene Fahrzeuge oder elektrisch angetriebene Fahrzeuge entwickelt hatten und europäische Unternehmen auch in der Batterietechnik führend waren. In diesen Bereichen sind andere Länder an uns vorbeigezogen. Um diesem Trend entgegenzuwirken, muss das hier entstehende geistige Eigentum geschützt werden, nicht zuletzt auch deshalb, weil andere Nationen die Notwendigkeit für den Schutz geistigen Eigentums längst erkannt haben.

Mit Fokus auf die Mobility-Industrie: In welchem Technologiefeld gibt es denn derzeit die meisten Patentanmeldungen aus Asien und den USA?

Zu dieser Frage möchte ich wieder auf eine Grafik verweisen. Das europäische Patentamt hat für das Jahr 2020 im Transportbereich folgende Länderverteilung der Patentanmelder veröffentlicht.

Die meisten europäischen Patentanmeldungen in diesem technischen Gebiet kommen also tatsächlich noch aus Europa, wobei Deutschland am stärksten ist, gefolgt von den USA, Japan und erst dann kommt China. Führende Anmelder aus dem Automotivebereich sind hier Continental, Bosch, Bridgestone, Mazda und Volkswagen. Aber auch hier hatten chinesische Patentanmelder zuletzt einen Zuwachs von 8%.  Die meisten Patentanmeldungen im Automotivebereich mit ebenfalls starken Zuwachsraten betreffen KI-basierte Applikationen, autonomes Fahren, Batterie- und Antriebstechnik. Sie kommen aus allen in der Grafik aufgeführten Ländern, natürlich auch aus Asien und den USA.

Nun kann man ja nicht behaupten, dass wir im Land der Dichter und Denker gar keine Ideen mehr hätten. Aber was bremst uns denn aktuell gegenüber anderen Ländern so stark aus?

Ich bin gar nicht sicher, ob man sagen kann, wir werden in Deutschland gegenüber anderen Ländern „ausgebremst“. Niemand hindert uns am Schutz unseres geistigen Eigentums. Es scheint aber so zu sein, dass andere Länder in bestimmten technischen Bereichen eine viel größere Dynamik und Innovationskraft an den Tag legen, als dies derzeit in Deutschland und Europa der Fall ist. Man muss aber auch sagen, dass wir von einem sehr hohen Niveau kommen. Deutsche Unternehmen gehören immer noch zu den Top-Anmeldern beim Europäischen Patentamt, wie man an der Grafik des EPA erkennen kann. Wir werden also nicht unbedingt ausgebremst, sondern eher eingeholt und überholt, was die Innovationskraft anbelangt, und dies belegen die Patentstatistiken. Wenn man sich dann noch einmal in Erinnerung ruft, dass all die Patentanmeldungen ausländischer Unternehmen in Europa und insbesondere Deutschland, wegen der dort so effizient und vergleichsweise kostengünstig arbeitenden Patentgerichtsbarkeit durchgesetzt werden können, dann ist durchaus zu befürchten, dass immer mehr Patentinhaber aus dem Ausland aus ihren Schutzrechten gegen die heimische Industrie vorgehen werden. Dagegen sollten wir uns wappnen.

Das klingt nach einer Art Wettbewerbsverzerrung?

Es ist nicht unbedingt eine Wettbewerbsverzerrung, sondern vielmehr eine logische Konsequenz der sich verschiebenden Verhältnisse. Man kann nicht davon ausgehen, dass sich aus dem Patentsystem ein Protektionismus zugunsten der heimischen Industrie ableiten lässt. Die Marktteilnehmer müssen sich eben auf die Patentaktivitäten der anderen Wettbewerber einstellen. Derzeit kommt eine Welle von Patentanmeldungen in den bereits angesprochenen Technologiebereichen insbesondere aus Fernost nach Europa. Um hier ein Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, sollten die deutschen und europäischen Unternehmen reagieren und ihre Ideen auch schützen. Zusätzlich sollten die Patentaktivitäten der hinzukommenden Wettbewerber überwacht werden und es muss gegebenenfalls gegen einzelne besonders störende Patente oder gegen Wettbewerber im Falle von Patentverletzungen vorgegangen werden. Patente sind ein Wettbewerbsinstrument, das den sich einstellenden Umständen entsprechend eingesetzt werden kann. Es mag sein, dass sich der Trend zunehmender Patentstreitigkeiten dadurch mittelfristig nicht ändern wird.

Aktuell ist eine Reform zur Modernisierung und Vereinfachung des Patentrechts im Gespräch. Was müsste sich Ihrer Meinung nach konkret ändern?

Es ist zutreffend, dass das Patentrecht oder besser gesagt das Patentsystem mit all seinen Facetten für einen Außenstehenden schwer zu greifen und manchmal auch schwer zu begreifen ist. Es gibt unterschiedliche IP-Strategien, die alle mehr oder weniger ihre Berechtigung haben. Schützt man seine Innovationen eher lokal oder global, setzt man auf Schutz in einzelnen ausgewählten Ländern oder versucht man eine möglichst große geographische Abdeckung des eigenen Schutzes zu erreichen, geht man eher aggressiv oder eher defensiv mit den eigenen Schutzrechten um etc.? Dazu kommt, dass wir in Europa ein sehr „zerfasertes“ Patentsystem haben; ähnlich wie in der Politik ist auch das Rechtssystem sehr territorial geprägt, jedes Land möchte seine eigenen Besonderheiten aufrechterhalten. Dennoch gibt es einen Trend zur Harmonisierung zumindest der Rechtsprechung in Europa. Dazu kommen die langjährigen Bemühungen, ein gemeinschaftliches europäisches Patent und ein hierauf zugeschnittenes gemeinschaftliches europäisches Patentgericht bereitzustellen. Hier sind die EU-Staaten bereits aufeinander zugegangen, wobei der Brexit natürlich kontraproduktiv ist. Die Voraussetzungen sind geschaffen, derzeit fehlt es aber noch an einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dann könnte es endlich losgehen.

Speziell in Deutschland haben wir eine Rechtsstreitigkeiten verzögernde Trennung zwischen Patentverletzungsverfahren und sogenannten Patentnichtigkeitsverfahren. Auch hier versucht man die von Ihnen angesprochene Vereinfachung zu erreichen. Es gibt viele Aspekte, die dabei zu berücksichtigen sind.

Es ist aber gar nicht unbedingt erforderlich, das bestehende System grundsätzlich zu ändern, denn es funktioniert an sich gut. Es muss nur sinnvoll von den Unternehmen genutzt werden, um das eigene geistige Eigentum zu schützen und die daraus resultierenden Schutzrechte dann auch durchzusetzen oder sich gegen Angriffe zu verteidigen.

Meiner Meinung nach muss weniger das System geändert werden, sondern vielmehr muss sich das Bewusstsein heimischer Unternehmen hinsichtlich der Vorteile des Patentschutzes noch stärker ausbilden.

Zum Schluss unsere Zukunftsfrage: Wenn wir in Deutschland genau so weitermachen wie bisher, was wird dann passieren? Welchen Rat können Sie uns mitgeben?

Das ist eine schwere Frage, denn wer kann schon in die Zukunft schauen. Die Frage impliziert, dass wir bereits auf dem absteigenden Ast sind. Das sehe ich nicht so. Die Stärke der deutschen und europäischen Industrie, das habe ich in den letzten 20 Jahren meiner Berufspraxis immer wieder erfahren, liegt zum einen im Mittelstand und zum anderen in der Flexibilität großer Unternehmen, sich auf neue Entwicklungen einzustellen. Sehen Sie sich aktuell Volkswagen an: die Umstellung auf Elektromobilität scheint zu gelingen. An diesen Stärken müssen wir festhalten. Natürlich wird die Welt immer globaler und Unternehmen arbeiten immer vernetzter zusammen. Es ist aber nicht unbedingt negativ, wenn beispielsweise ein deutsches Unternehmen, das sich auf die Überwachung und Sicherung der Qualität bestimmter Fertigungsprozesse spezialisiert hat, weltweit seine Technologie anbietet und regelmäßig mit Aufträgen zum Zuge kommt. Wichtig ist dann allerdings, dass ein solches hochspezialisiertes Unternehmen seine Ideen umfassend schützt, um nicht seine kostenintensive und langjährige Entwicklungsarbeit an Nachahmer zu verlieren.

Auch die Politik muss Rahmenbedingungen schaffen, die dem Markt gerecht werden. So hätte beispielsweise ein durchdachtes Fördererkonzept für eine Kombination aus Solarenergie und E-Mobilität den deutschen Industriestandort vor einigen Jahren in diesem Bereich sicher stärken und die Entwicklung der E-Mobilität beschleunigen können. Stattdessen wurden staatliche Fördergelder für Solaranlagen kurzfristig gestrichen, damit die heimische Solarindustrie fast zum Erliegen gebracht und der Import von asiatischen Solaranlagen geradezu beflügelt. Der E-Mobilität hat dies sicher auch nicht genutzt.

Ich hoffe, dass ein neuer Trend, nämlich die klimaneutrale Herstellung synthetischer Kraftstoffe, zu dem beispielsweise das KIT in Karlsruhe oder auch die ETH in Zürich vielversprechende Vorreiterprojekte durchführen, nicht auf vergleichbare Art und Weise von anderen Regionen übernommen wird.

Letztlich müssen wir uns auf unsere Stärken besinnen, nämlich die Entwicklung guter und langlebiger Technologie hoher Qualität. Darin waren wir immer führend. Diese Technologien müssen wir schützen und notfalls Schutzrechte auch durchsetzen.

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29.03.21